Ziel des Graduiertenkollegs ist die theoretisch-systematische, historische und praxeologische Erforschung der Konzeptualisierungen von ‚Gegenwart‘ und ‚Gegenwartsliteratur‘ sowie des Verhältnisses von ‚Gegenwart‘ und ‚Literatur‘. Die Forschungsprojekte richten sich infolgedessen auf die historischen und aktuellen Konstitutionsbedingungen von Gegenwart, (Gegenwarts-)Literaturen und Gegenwartsliteraturforschung sowie auf ihre komplexen Interdependenzen. Das Forschungsprogramm ist in vier Teilbereiche aufgefächert:
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Was ist Gegenwart?
Oder: Begriff, Problem und Geschichte der Gegenwart
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Was ist Gegenwartsliteratur?
Oder: Das Problem der (literarischen) Gegenwarts-referenz und der Vergegen-wärtigung von ‚Gegenwart‘
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Was ist Gegenwarts-literaturforschung?
Oder: Das wissenschafts-geschichtliche Problem der ‚Gegenwart‘ und ‚Gegenwartsliteratur‘
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Wie wird Gegenwart/ Literatur gemacht?
Oder: Praxeologische Perspektiven auf ‚Gegenwart‘ und ‚Gegenwartsliteratur‘
Überblick
Das Forschungsprogramm des Kollegs richtet sich auf die systematische, historische und praxeologische Analyse des Konzepts ‚Gegenwartsliteratur’ und begreift daher seine Komponenten ‚Gegenwart‘ und ‚Literatur‘ wie auch deren wechselseitiges Verhältnis als kontingente Phänomene, die unter einer historisch-vergleichenden Perspektive zu betrachten sind. Impliziert sind damit ein philologisches wie auch ein kulturwissenschaftliches Ziel: Die theoretisch-historische Fundierung der Gegenwartsliteraturforschung ermöglicht zum einen die Reflexion des akademischen und außerakademischen Umgangs mit ‚unserer Gegenwartsliteratur‘ und zum anderen die grundlegende und vergleichende Erforschung der Historizität von ‚Gegenwart‘, ‚Gegenwartsliteratur‘ und ‚Gegenwartsliteraturwissenschaft‘ selbst. All dies ist weiterhin ein Desiderat der Forschung. Insofern verspricht das Forschungsprogramm systematische Impulse für die Gegenwartsliteraturwissenschaft, für die Literaturtheorie (die Referenzbeziehung von Literatur und ‚Gegenwart‘), die Literaturgeschichtsschreibung, die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie für deren jeweilige Wissenschaftsgeschichten.
Das Graduiertenkolleg untersucht, was ‚Gegenwart‘ jeweils ‚ist‘, wie, wann und in welchen Kontexten reflexive Begriffe wie ‚die Gegenwart‘, ‚the present‘, ‚le présent‘ (und semantisch verwandte Konzepte wie ‚Zeitgeist‘, ‚genius of time‘, ‚Zeitgenossen‘, ‚contemporariness‘, ‚fellow-moderns‘ etc.) entstehen, generiert werden, sich verändern oder fehlen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf soziale, mediale und diskursive Rahmenbedingungen der Reflexions- und Darstellungsformen von lokaler, nationaler und globaler gesellschaftlicher Zeit als auch im Hinblick auf die jeweiligen Voraussetzungen für und die Effekte auf die Gegenwartsliteraturen.
Umgekehrt gilt, dass Literaturen, Literaturkritiken und Literaturwissenschaften ihrerseits als Praktiken der Konstitution und Reflexionsmedien von ‚Gegenwart‘ eine zentrale Rolle spielen. Da diese in ihren jeweiligen medialen, praktischen und diskursiven Voraussetzungen mit der historisch variablen Erzeugung, Reflexion und Dokumentation von ‚Gegenwart‘ in besonderer Weise verbunden sind, nimmt das Kolleg folgerichtig Praktiken der Hervorbringung von Gegenwart und von Gegenwartsliteratur in den Blick, um so die Akteure, Werkstätten, Labore, die Szenen und Handlungsfelder und die an diese gebundenen Verfahren der Herstellung von Gegenwartsliteratur theoretisch und historisch informiert und durch vielfältige Kooperationen beobachten und reflektieren zu können. Dieser praxeologische Teilbereich des Kollegs verbindet das Forschungsprogramm nahtlos mit einem innovativen und praxisnahen Qualifizierungskonzept.
Förderphase 1: Oktober 2017 - März 2022
Förderphase 2: April 2022 - September 2026
Alle diese Bereiche sind trotz einer Schwerpunktverlagerung nach wie vor von fundamentaler Bedeutung für die Forschungsausrichtung des Graduiertenkollegs, dessen Fokus mit Beginn der 2. Förderphase (April 2022 – September 2026) – auf der Grundlage von kollegsintern und -extern generierten Ergebnissen zu den Problemstellungen (1) und (4) – verstärkt auf der Untersuchung von zentralen Prozessen, Bezugnahmen und Referenzpraktiken im wechselseitigen Einflussverhältnis von ‚Literatur‘ und ‚Gegenwart‘ (2) sowie deren literaturwissenschaftliche Berücksichtigung in der fachhistorisch aufzuschließenden Konzeption und (Nicht-)Behandlung von ‚Gegenwartsliteratur‘ (3) liegt. Aus den grundlegenden Fragestellungen heraus ergibt sich überdies eine interdisziplinäre Vernetzung der im Kolleg bearbeiteten Projekte, deren Schärfung gerade in einem vergleichenden Blick zwischen Verfahrensweisen unterschiedlicher Künste und Medien geleistet wird. Dass dabei auch internationale Perspektiven Eingang finden, versteht sich von selbst.
Eine ausführliche Version des Forschungs- und Qualifizierungsprogramms sowie alle Literaturangaben finden Sie in der Leseversion des DFG-Antrags für die 2. Förderphase des Kollegs (April 2022 - September 2026).
Gegenwartsliteraturforschung und (ihre) Desiderate
Dem Graduiertenkolleg ist grundsätzlich an der Aufarbeitung von Konstitutionsbedingungen eines Gegenstands unter der Bezeichnung ‚Gegenwartsliteratur‘ gelegen. Dazu gehört, Gegenwartsliteratur nicht als Gegebenes oder einfach als die Literatur der jeweils jüngsten Epoche vorauszusetzen, sondern danach zu fragen, wie sich der epistemische Gegenstand ‚Gegenwartsliteratur‘ in welchen Kontexten und unter welchen historischen Voraussetzungen überhaupt herausbilden kann bzw. konnte, mithin also ‚Gegenwart‘ und ‚Gegenwartsliteratur‘ kontingent zu setzen und historisch, theoretisch und praxeologisch zu reflektieren.
Dabei spielen Fragen nach (der Konturierung von) Bezugsräumen, sozialen, medialen, institutionellen, individuellen u.a. Produktions-, Selektions- und Distributionsbedingungen sowohl auf gegenständlicher als auch auf Seite der ‚zuständigen‘ Instanzen eine wesentliche Rolle, zumal die (deutsche) Literaturwissenschaft aus verschiedenen, wenn auch wenig triftigen Gründen, nach wie vor eine zaudernde Grundhaltung gegenüber einer je als gegenwärtig gesetzten Literatur an den Tag legt. Neben vor allem aus literaturgeschichtlicher Perspektive vorgebrachten historischen Nähe-Distanz-Problematiken werden zuweilen Stimmen laut, die um eine Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft selbst bangen, wenn diese schon allein qua Beschäftigung in Kanonisierungsprozesse oder eine im Werden befindliche Textproduktion eingreife .
Aus solchen Einlassungen wird ersichtlich, dass eine Wissenschaftsgeschichte der je jüngsten Literatur als Beispiel für die Auseinandersetzung um das Prestige von Texten und Textpraktiken generell rekonstruiert werden kann. Auf sachlicher Ebene wäre allerdings zu bemerken, dass ein wissenschaftliches Kategorienspektrum samt analytischer Methoden den eigenen Ansprüchen nach auf sämtliche Ausprägungen literarischer Texte anwendbar sein müsste, sich also gerade an einer ‚Gegenwartsliteratur‘ schärfen ließe (und geschärft hat, wie am Einfluss Ezra Pounds und T.S. Eliots auf die Entstehung des New Criticism oder den Verbindungen zwischen russischem Futurismus und formalistischer Literaturtheorie ablesbar ist). Allerdings impliziert das die Bereitschaft, die aus der Vergangenheit stammenden Analysekategorien in der Auseinandersetzung mit neuer Literatur (und womöglich neuen Formen, Institutionen, Medien und Globalisierungseffekten) auch in ihrer Historizität zu reflektieren bzw. zu modifizieren – so wie es im Übrigen auch in der Vergangenheit (neuartige) Texte (und deren Darbietungsmodalitäten) selbst waren, die in ihrer Gegenwart zugleich neue Analysekategorien für den Umgang mit zeitgenössischen Texten geschaffen haben. Hinzu kommt eine Vernachlässigung der Historizität und der praxeologischen Analyse von Beziehungen zwischen Literatur und ‚Gegenwart‘, die einerseits diskursiven, historisch spezifischen Rahmungen Rechnung trägt, andererseits der (praxeologischen) Beobachtung von Interdependenzen in den vielgestaltigen Prozessen innerhalb des ‚Literaturbetriebs‘ Raum bietet.
Forschungsvorhaben und methodische Prämissen
Zu den zentralen Ansatzpunkten des Forschungsprogramms zählt die Prämisse, Gegenwartskonzepte nicht mit entweder räumlich-lokalen Bezügen oder Temporalität zu identifizieren bzw., an ein Grundnarrativ der ‚Moderne‘ anschließend, eine Hierarchie beider Begriffsdimensionen zugunsten von Zeitlichkeit/Verzeitlichung zu präsupponieren. Dergestalt lässt sich vermeiden, wichtige Beobachtungspunkte – wechselseitige Verschränkungen, Bedingtheiten, diskursive Relationierung usw. – qua methodischer Vorentscheidung unbedacht auszuschließen.
Lediglich unter einer solchen Bedingung kann sichtbar werden, wie (historische oder zeitgenössische) kulturkritische Gegenwartsreflexionen im Spannungsfeld von Anwesenheits-/Abwesenheitskonzepten und Zeitlichkeit agieren, wie die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ u.a. auf Präsenzerfahrungen abstellt, wie ästhetische Verfahren mit der (Evokation der) Eigenpräsenz materieller Textualität oder einer „Spürbarkeit der Zeichen“ (Jakobson) operieren, die durchaus nicht auf das Schriftmedium beschränkt bleiben, kurz: wie temporale und räumliche Bezugnahmen in den unterschiedlichen Gegenwartsbezügen miteinander verbunden werden. Das Graduiertenkolleg verzichtet indes darauf, eine Vorentscheidung bzgl. des Präsenzbegriffs zu treffen, weil die phänomenologischen, vitalistischen und zeichenkritischen Hintergrundannahmen von Debatten um ästhetische Präsenz (poststrukturalistische Immanenz der Zeichenwelt vs. Dimensionen des sinnlichen Erscheinens, der leibhaften Materialität und des evidenten ‚Sich-Zeigens‘ als Erfahrung einer von keiner Vermittlung getroffenen Gegenwärtigkeit) selbst zum Gegenstandsbereich gehören und in die historische Semantik, zumal in die der Zeit um 1900, zurückführen und insofern ihrerseits zu historisieren sind.
Auf der Grundlage derartiger Untersuchungen verspricht das Forschungsprogramm neuartige Perspektiven auf literaturgeschichtliche Problemstellungen, indem mit der Fokussierung auf die Figuren der Referenz und die Diskursivierung von Referenzobjekten gerade das in den Blick gerückt wird, was auf politisch-gesellschaftliche Datierungen abstellende Epochenbegriffe (nach 45, nach 68, nach 89, nach 2001) immer schon voraussetzen. Insofern ist das Verhältnis von Literaturgeschichte und Gegenwartsliteratur versuchsweise anders zu konzeptualisieren: als Geschichte der Begründung und Aktualisierung von historischen Gegenwartskonzepten. Statt mit einer sich fortwährend verschiebenden Epoche ‚der‘ Gegenwartsliteratur hätte man es mit einer Abfolge von Transformationen zu tun, in denen (1) neuartige Gegenwartsbezüge, (2) Reaktualisierungen älterer Bezugsmuster und (3) ‚Cluster‘ synchron konkurrierender Gegenwartsmodelle, deren Heterogenität innerhalb desselben historischen Feldes die Identität einer gegenwartsliterarischen Epoche ohnehin unhaltbar werden lässt, unterschieden werden müssen.
So gehört es zu den Ambivalenzen der frühen Moderne, dass ihr emphatischer Gegenwartsbezug in semantischen Traditionen zum Ausdruck kommt, die Revolutionsallegorien des 18. Jahrhunderts verpflichtet sind. Das gilt auch bereits 100 Jahre früher für das Verhältnis der britischen Romantiker zum (Neo-)Klassizismus. Offenbar speisen sich ästhetische Gegenwartskonzepte auch aus einem Archiv von bereitliegenden Artikulationsmustern (Topik, doxai), die nach zu explorierenden Regeln, Routinen und auf der Grundlage impliziten Wissens (re-)aktualisiert werden. Ähnliches ließe sich für die Gegenwartsermächtigungen der Avantgardebewegungen zeigen, die – wie das Beispiel des Futurismus lehrt – nicht als schlichte Mythenfeindlichkeit zu verstehen sind. Ganz im Gegenteil entfacht die 1909 von Marinetti proklamierte „Geburt des Kentauren“ eine symbolische Kriegsführung, die um die ‚richtigen‘ Mythen kämpft, indem sie die älteren, ‚passatistischen’ Mythen aggressiv überschreibt oder zerstört.
Diachrone Herangehensweise
Es liegt auf der Hand, dass für das Forschungsvorhaben des Kollegs die Epochenschwelle ‚um 1800‘ und die hier seit langem beobachteten Prozesse der Verzeitlichung eine zentrale Rolle spielen. Es entsteht ein reflexives Gegenwartsbewusstsein, das dieses von Vergangenheit und offener Zukunft gleichermaßen unterscheidet, einen prädominant räumlich geprägten Gegenwartsbegriff transformiert und die Einheit von Kontinuität und Prozessualität einerseits und Bruch, Schnitt, Riss, Stauung und Verschiebung andererseits begründet.
So zutreffend es ist, dass die Temporalisierung der kulturellen Semantik ein Produkt des ‚sattelzeitlichen‘ 18. Jahrhunderts ist, so deutlich ist in den vergangenen Jahren geworden, dass dieses Basisnarrativ wesentliche Transformationsprozesse, die sich bereits früher ereignen, verdeckt. Im internationalen Kontext zeigt sich das paradigmatisch an der Querelle des anciens et des modernes, die ‚um 1700’ besonders in Frankreich, Italien und in England die Entstehung eines neuen Gegenwartsbewusstseins indiziert. Bezogen auf den deutschsprachigen Raum ist vor allem auf das notorisch ‚schwierige‘ Feld zwischen 1690 und 1730 zu verweisen; hier sind Teilprozesse zu beobachten, deren Einheit in dem Versuch zu sehen ist, Verzeitlichungen gegen eine Tradition anzusetzen, die Zeit noch primär als Entfaltung eines Sachzusammenhangs konzipiert (etwa in Form eines Umbaus von einer von Endzeiterwartungen geprägten Zukunftssicht zu einer säkularen Geschichtsauffassung oder von Veränderungen in der Organisationsweise der überlieferten Regelpoetik). Auf der Grundlage der neueren Forschung über Aktualität und Zeitbewusstsein im 17. Jahrhundert wären die Kasualdichtung wie überhaupt die Kategorie der ‚Gelegenheit‘ neu zu untersuchen, aber auch Praktiken der Vergegenwärtigung in der Moralistik, im Roman (z. B. im „Geschicht-Roman“ Eberhard WernerHappels), im Theater (vom Schultheater über das Jesuitentheater bis hin zum barocken Trauerspiel) oder in den Moralischen Wochenschriften.
Zu analysieren wäre also, wie sich Referenzen auf zeitlose Normen zugunsten argumentativer und praktischer Strategien von Beobachtungen verschieben und wie dann ‚Beobachtung‘ selbst zur Funktion von ‚Literatur‘ wird, wie beispielsweise eine Gegenwartsausrichtung in Form von Verhaltensflexibilität (gegenüber einer als wandelbar erfahrenen Sachlage) in der Moralistik Einzug hält (Macchiavelli, Castiglione, Montaigne, La Rochefoucauld, Bacon u. a.). Mit der Essayistik wird zugleich ein Schreibverfahren entwickelt, das als Instrument einer solchen gegenwartsorientierten Wissensbildung fungiert. An die Stelle des sattelzeitlichen Masternarrativs kann so ein komplexeres Bild von Schüben, Iterationen oder auch längerfristigen Kontinuitäten treten. Und so wie um ihre Vorgeschichte ist die Sattelzeit auch um ihre Nachgeschichten um 1900 bzw. im 20. Jahrhundert zu ergänzen.
Komparatistische Perspektiven
Für das Forschungsprogramm insgesamt ist der Einbezug einer komparatistischen Perspektive in mehrerlei Hinsicht notwendig und konstitutiv. Auf einer basalen begriffsgeschichtlichen Ebene ist sie schon deshalb unumgänglich, weil es in vielen europäischen Literatursprachen kein exaktes Äquivalent für den deutschen Begriff ‚Gegenwartsliteratur’ gibt. Vor diesem Hintergrund soll in der zweiten Phase danach gefragt werden, in welcher Weise unterschiedliche begriffliche Konzeptualisierungen von ‚Gegenwart‘, ‚Moderne‘, ‚Zeitgenossenschaft‘ etc. sowie deren differierende historische Verschiebungen mit ästhetischen und medialen Praktiken und theoretischen Reflexionen von Bezugnahmen auf Gegenwart korrespondieren.
Zum Analyseraster solcher Referenzen gehört wesentlich die Dimension des Globalen im Rahmen einer zunehmenden, kommunikativen Vernetzung und der damit einhergehenden ‚time-space-compression‘, vor allem aber die verstärkte Synchronisierung vormals lokaler Eigenzeiten zu einem umfassenden Zeitregime des ‚global present‘ (vgl. Harvey 1990; Papastergiadis/Lynn 2014; Watson/Wilder 2018; Dogramaci/Mersmann 2019).
Für die in der zweiten Phase avisierte intensivierte Erforschung von Referenzbezügen einerseits und von wissenschaftsgeschichtlichen Bedingungen und Voraussetzungen für Bezugnahmen auf Literatur der Gegenwart andererseits bedeutet das zweierlei: Zum einen muss gefragt werden, auf der Grundlage welcher medialen Voraussetzungen und welcher ästhetischen, semiotischen, aber auch ökonomischen (verlegerischen) Praktiken Imaginationen globaler Gegenwart jeweils erzeugt und/oder reflektiert werden. Wie korrelieren Referenzen auf entfernte, aber gleichzeitige Referenzobjekte mit spezifischen literarischen Verfahren oder Gattungen (Moser/Simonis 2014b, Moser 2018)? Globalreferenzen sind nicht erst Phänomene der globalisierten Gegenwart, sondern begegnen schon seit dem 16. und 17. Jahrhundert (Kiening 2006), wandeln sich aber in Intensität und Qualität, wobei eben diese Transformationen (Stichwort: Migration, vgl. Dogramaci/Mersmann 2019) zu untersuchen sind. Selbstverständlich muss zugleich die literarische Globalisierung der Gegenwart daraufhin untersucht werden, wie unter Bedingungen heutiger transnationaler Produktions- und Rezeptionsbedingungen neue Formen von Gegenwartsbezüglichkeit entstehen.
Das Forschungsprogramm verfährt komparatistisch schließlich auch im Sinne der ‚Interart Studies‘, insofern die Gegenwartsbezüglichkeit der Literatur mit derjenigen anderer Künste verglichen wird. In hohem Maße auf Aktualität- und Globalität bezogen sind gerade diejenigen Künste, bei denen die Sprache eine nachgeordnete, Körperlichkeit, Materialität und Performanz dagegen eine zentrale Rolle spielen.
Praxeologische Perspektive
In der Folge der Verfahrensprobleme literaturwissenschaftlicher Geschichtsschreibung und begriffsgeschichtlicher Differenzen erlaubt der reflexiv kooperierende Blick auf laufende Praktiken der Gegenwartsliteratur und der Gegenwartsliteraturforschung bereits im Forschungsprogramm Ansätze zu einer Neufokussierung auch der historisierenden Wissenschaftsforschung. Hatten praxeologische Verfahren in der Beobachtung (natur-)wissenschaftlicher Habitualitäten und Routinen, in der Rekonstruktion von implizitem und situativem Wissen sowie von kooperativen Verfahren ‚im Labor’ ihren ersten Einsatzort, so profitiert inzwischen auch die Wissenschaftsgeschichte der Philologien und der Literaturwissenschaft von praxeologischen Ansätzen, die die unterschiedlichen Praktiken ‚im Seminar’ und ‚in der Vorlesung’ beobachten.
Wichtige Parameter kann sie aus der Analyse von Kooperationspraktiken zwischen akademischer und außerakademischer Thematisierung von ‚Gegenwartsliteratur‘ gewinnen, sei es in der Liaison zwischen germanistischer Forschung und Lehrerbildung gegen Ende des 19. Jahrhunderts (mit der Folge eigenständiger Legitimation von Gegenwartsliteraturforschung bei Berthold Litzmann), der expliziten und institutionell verankerten Förderung von Gegenwartsliteratur (z.B. Oskar Walzel, Walter Höllerer, Peter Szondi oder Erhard Schütz), in Form von Poetikdozenturen, ‚writers in residence‘-Programmen oder Studiengängen für ‚creative writing‘.
Die gleiche Beobachtungsintensität gilt den nichtakademischen gegenwärtigen Verfahrenstechniken und Praktiken bei Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur, in denen einerseits stark textbezogene, inhaltliche und formale Begriffe von Gegenwärtigkeit und Aktualität geltend gemacht, andererseits Projektionen gegenwärtiger Popularität wirksam werden. Hinzu kommen z. B. die Kooperation von Presseabteilung und Feuilleton bei der Präsentation und Einschätzung von Debütromanen, dramaturgische Konzepte der Rezeption von nicht-dramatischer Gegenwartsliteratur im Theater, archivarische Entscheidungen der Vorlass- und Nachlassregelung lebender Autor*innen, Aufnahmeverfahren für Studiengänge im kreativen Schreiben, Jury-Diskussionen und -Abstimmungen; in den Blick kommen Verfahren des Zusammenschlusses und der Kollaboration gleichgesinnter Autor*innen ebenso wie Textpraktiken der Vergegenwärtigung. Die zuletzt diskutierte Frage, ob sich etablierte Institutionen, Akteure, Aktanten und literarische Textpraktiken der Gegenwartsliteratur ‚im Netz‘ komplett auflösen, lässt sich sinnvoll ebenfalls nur mit praxeologischen Instrumenten bzw. Interventionen beantworten, weil sie jenseits von kurrenten Niedergangsfantasmen die Etablierung neuer Kooperationsverfahren zu beobachten erlauben, die auch im Vergleich mit den anderen Künsten zu beschreiben sind.
Auf diese Weise ist im Graduiertenkolleg auch das Vorurteil zu bekämpfen, das den Akteuren des sogenannten ‚Literaturbetriebs‘ automatisch ein fehlendes oder falsches Bewusstsein von dem zuschreibt, was sie determiniert und steuert. Statt Reflexionsdefizite zu unterstellen, wird allen Beteiligten, von den Doktorand*innen und Betreuer*innen bis zu den Partner*innen aus der Praxis im Modus von Dialog, Interview, Beobachtung und Kooperation nahegelegt, Aufschluss über das zu geben, was sie antreibt, sodass durch wechselseitige, iterative Beobachtungen und kommunikative Prozesse Latenzen analysierbar werden. Welche Art von Quellen, Dokumentation und Auswertungsverfahren in den Prozessen dieser Art von kooperativer Beobachtung im Unterschied zu traditionellen Distanzierungsverfahren entstehen, wird methodologisch in den Lehrformaten des Graduiertenkollegs diskutiert.
Forschungsfragen
Die Historisierung von Gegenwartskonzepten war ein wesentliches Ziel innerhalb der ersten Phase des Graduiertenkollegs und bildet nun die methodologisch-theoretische Voraussetzung für die Kollegarbeit in der zweiten Phase. Der Blick fällt dabei auf die Relevanz benachbarter Konzepte, wie ‚Aktualität‘ oder ‚Zeitgenossenschaft‘ und auf korrespondierende Zeitbegriffe bzw. deren Implikationen, wie ‚Zukunft‘, ‚Krise‘, ‚Reihe‘, ‚Latenz‘, ‚Erinnerung‘, ‚Gewohnheit‘ oder ‚Gelegenheit‘, wie sie in der ersten Phase des Kollegs beforscht wurden. Dazu zählen ebenso Formen und Weisen der Intervention in die Gegenwart, wie etwa das ‚Engagement‘, aber auch Beschreibungs- und Wertungskategorien in ihren Relationen zu sozial- und medienhistorischen Entwicklungen wie Anachronismus, Unzeitgemäßheit oder Gleichzeitigkeit. Die geschichtstheoretische und literaturgeschichtliche Frage nach historischen Einsatzpunkten von Gegenwart wird in der zweiten Phase vor allem hinsichtlich der Relationierung von Gegenwart und Literatur fokussiert.
Beobachtet werden dabei literarische und ästhetische Programmatiken und Vollzüge, die ‚Gegenwart‘ durch Referenz auf Gleichzeitiges erzeugen, zugleich lassen sich Textgattungen wie die Gegenwartsdiagnose auf ihre literarischen und narrativen Muster, Poetologien und Ästhetiken hin untersuchen. Daneben werden auch publizistische Gegenwartsbestandsaufnahmen untersucht, die selbst auf Literatur oder andere Künste referieren, um daraus diagnostisches Potenzial zur Erfassung der eigenen Gegenwart abzuleiten. In den Fokus gerät dadurch auch die Koevolution von Öffentlichkeit und neuen Formen des Nicht-Öffentlichen. Untersucht werden Praktiken im Umgang mit Buchdruck und Presse, mit Online- sowie optischen, akustischen, schriftlichen sowie mündlichen Kommunikationsmedien.
Der Sache nach ist Gegenwartsliteratur so alt wie die Literatur selbst, dem Begriff nach allerdings ist sie eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Wie, wo, seit wann und warum Texte als ‚Gegenwartsliteratur‘ adressiert werden, ist eine für das Kolleg grundlegende Frage. Auf einer ersten, basalen Ebene muss unterschieden werden, ob und in welchem Maße der Begriff im Sinne eines genitivus subjectivus verstanden wird und Gegenwart somit als Subjekt der Literatur, sozusagen als ihr Autor, erscheint oder aber im Sinne des genitivus objectivus, d. h. als Bezugnahme der Literatur auf Gegenwart als ihr Objekt. Wichtig ist es auch, den Gründen dafür nachzugehen, warum in anderen europäischen Sprachen hierzu keine exakte Entsprechung existiert. In der zweiten Phase des Kollegs stehen die Frage nach der Bezugnahme von Literatur (und anderen Künsten) auf Gegenwart und die damit verbundenen Prozesse, Verfahren und Effekte von Vergegenwärtigung der Gegenwart im Zentrum unserer Forschung. Ausgangspunkt dafür ist die im Rahmen des Kollegs erarbeitete Erkenntnis, dass Formen und Typen von Bezugnahme auf ‚Gegenwart‘ selbst konstitutiv an der Bildung und Transformation der Begriffe von ‚Gegenwart‘ und an der Imagination von
‚Gegenwarten‘ beteiligt sind. Diese interagieren dabei elementar mit Raum- und Zeitlogiken. Weiterhin finden sich in unserer Gegenwart zahlreiche Phänomene künstlerischer Praktiken, die unter dem Begriff des „Referenzialismus“ gefasst werden. Gegenüber älteren Verfahren der Referenz lassen sich vor dem Hintergrund digital-medialer Bedingungen neue und qualitativ veränderte Modi von Bezugnahmen ausmachen, insofern Akte des Referierens selbst zum formgebenden Movens der Künste werden. In dem Maße, wie deutlich wird, dass ‚Gegenwarten‘ Effekte von Referenzen und der Bezugnahme auf Referenzen sind, kann auch historisch untersucht werden, wie Formen von Bezugnahmen, ihre Konjunkturen und ihre Interdependenzdynamiken in verschiedenen Formen von Öffentlichkeit jeweils Gegenwarten und Gegenwartsliteraturen hervorbringen. Das für unsere Gegenwart diagnostizierte Phänomen des „Referenzialismus“ dient damit als Anlass, nach seinen historischen Spielarten zu fragen und methodische und theoretische Instrumentarien der vergleichenden Analyse literarischer Gegenwartsbezüge zu entwickeln.
Die internationale literaturwissenschaftliche Fachgeschichte ist in mehrfacher Hinsicht vom referenziellen Gefüge aus Gegenwart, Literatur und ihrer Erforschung durchdrungen. So war Gegenwärtigkeit von Beginn an ein zentrales Problem für die Wissenschaftlichkeit des Umgangs mit literarischen Texten. Die Konstitutionsgeschichte der Literaturwissenschaft ist wesentlich geprägt von der Ausklammerung dieser Gegenwärtigkeit. Andererseits ist die Bezugnahme auf Literatur der Gegenwart ein bisher zu wenig beachteter Motor in der langen Geschichte der Institutionalisierung der Literaturwissenschaft. Der Gegenwartsliteratur wird traditionell und aktuell eine produktive wie hemmende Wirkung auf die literaturwissenschaftliche Forschung zugeschrieben. Die Nähe zwischen Beschreibungs- und Objektsprache, die Konkurrenz zu anderen Akteur*innen im Betrieb – worunter bspw. auch die lebenden Autor*innen zählen, die ihre eigenen Texte deuten – und die Zukunftsoffenheit von Untersuchungskorpus und Geltung der metaperspektivischen Erklärung stellen die Literaturwissenschaft vor produktive Herausforderungen. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive kann dieser Zusammenhang als Herausforderung gedeutet werden, Literaturwissenschaftsgeschichte an den oder jenseits der fachgeschichtlichen Grenzen zu schreiben.
Ebenso wie die ‚Literatur‘ sind dabei auch die Dynamiken ihrer Wissenschaft in einer epistemischen Situation verhaftet, in deren Rahmenbedingungen sie operieren. Eine Historisierung der Gegenwartsliteraturforschung hat demnach neben institutionellen und epistemischen immer auch gesellschaftliche oder intermediale Einflussfaktoren wissenschaftlicher Konjunkturen in den Blick zu nehmen. Eine Wissenschaftsgeschichte der Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur ist demnach in ihrem Kern kontextorientiert – das betrifft ihren Gegenstand (Gegenwartsliteraturforschung) wie den Gegenstand des Gegenstands (Gegenwartsliteratur) und die Reflexion eigener Deutungsansätze (Historisierung). Hierzu werden die bislang noch wenig genutzten praxeologischen Ansätze, die ethnographische, wissenssoziologische und handlungstheoretische Ansätze verbinden, fruchtbar gemacht. Als besonders ertragreich für eine Historisierung der Gegenwartsliteraturforschung erweist sich zudem ein rezeptionsgeschichtlicher Zugriff, der nach den jeweiligen ‚Werkfokussierungen‘ verschiedener historischer Gegenwarten fragt.
Jenseits des literaturwissenschaftlichen Binnenraums kommen jene Praktiken in den Blick, die ‚Gegenwartsliteratur‘ kontinuierlich generieren, reflektieren und zu beeinflussen suchen. Dass Gegenwartsliteratur kein selbstverständlicher Gegenstandsbereich ist, sondern gemacht wurde und wird, ist bisher nur in Ansätzen untersucht worden. An dieser Stelle schließt der praxeologische Schwerpunkt des Graduiertenkollegs an; er zielt auf die Untersuchung historisch varianter Praxen im interkulturellen und im Vergleich der Sprach-, Bild- und Klangkünste, um die Selbstverständlichkeiten gegenwartsliterarischer Praktiken bewusst zu machen und ggf. zu stören sowie neu zu gestalten. Nicht nur das aktuelle ‚ästhetische Engineering‘, Werbestrategien der Buchbranche oder Reaktualisierungsverfahren in Literaturausstellungen und in Erwerbungs- und retrieval-Verfahren in Bibliotheken und Literaturarchiven, sondern auch historische Verfahren der Produktion von Gegenwartsliteratur sind hierzu in den Blick zu nehmen. Verlage, Zeitungen, Theater, Stiftungen, Literaturhäuser, Festivals, Jurys, Studiengänge publizieren und prämieren ausgestellte und stets künstlerisch gestaltete Referenzen.
Literarische Agenturen und Scouts suchen nach Autorschaften, in denen ausgewählte Bezugnahmen zu Tage treten, die entwickelt und vermittelt werden können; dies gilt in ähnlicher Weise auch für Bildungsinstitutionen (Schule, Universität, nationale Kulturinstitute im Ausland) und für jene Institutionen, die Literaturgeschichte und Kanon sichern, verwalten und aktualisieren (Literaturkritik, Archiv, Bibliothek, Museum). Über ihre Programmgestaltung praktizieren die genannten Institutionen ein komplexes Agenda-Setting und determinieren, welche Eigenarten des künstlerischen Artefakts für eine variable Frist als gegenwärtig und mit Gegenwartsreferenz ausgezeichnet und kontextualisiert werden oder was vice versa als unzeitgemäß apostrophiert wird. Dies alles lässt sich schon lange nicht mehr auf eine nationale Ebene und auf das Medium Buch beschränken, sondern muss als historisch generierte, internationale, intermediale und zwischen den Künsten angesiedelte Konstellation betrachtet werden, in der Gegenwartsliteratur in einem starken Sinn fabriziert wird. Zugang zu diesen Phänomenen verspricht die Adaption von Verfahren, die sich selektiv an einschlägigen Methoden der Geschichts- und Sozialwissenschaften orientieren.