Gattungen und Genres sind einerseits wichtige Orientierungspunkte in unserer (medialen) Gegenwart, andererseits ist die Gattungstheorie eine „Reflexionsinstanz von Gegenwart“ als solcher (Keckeis/Michler 2020). Auf der Tagung sollen die verschiedenartigen Beziehungen von „Gattung und Gegenwart“ diskutiert werden: Wie wird Gegenwart in einzelnen (literarischen, filmischen, künstlerischen und musikalischen) Gattungen und Genres verhandelt? Welche Gattungen und Genres wurden in welchen historischen Gegenwarten hervorgebracht? Und welche Rolle spielen Zeit- sowie Gegenwartskonzepte in der und für die Gattungstheorie?
Obwohl heute meist als Zeit- und Epochenbegriff verwendet, ist das Konzept ‚Gegenwart‘ als historisch kontingente Konstruktion zu betrachten. Um 1800 findet eine Verzeitlichung des Denkens statt (vgl. Koselleck 1979, Oesterle 1985, Luhmann 1990): An die Stelle einer punktuellen räumlichen Präsenz tritt dabei die Vorstellung von Gegenwart als eines „jedesmaligen, in der Zeit veränderlichen Zusammenhang[s] aller Elemente der Welt“ (Lehmann 2017). So wird es möglich, von Gegenwart als einem „Zugleichsrahmen“ (Ullmaier 2020) zu sprechen.
Eine vergleichende Historisierung derart unterschiedlicher Gegenwartskonzepte muss eine Geschichte literarischer und künstlerischer Gegenwartsbezüge berücksichtigen: Literatur und Kunst tragen in hohem Maße dazu bei, Gegenwart zu konstituieren, zu reflektieren und zu transformieren, indem sie ästhetische Referenzpraktiken ausprägen, die wiederum durch historisch variable Gattungskonventionen bedingt sind.
In einzelnen Gattungen, Genres oder Textsorten wird Gegenwart unter je spezifischen medialen, formalen und praxeologischen Bedingungen ‚gemacht‘ und reflektiert. Dafür finden beispielsweise der Brief- oder Fortsetzungsroman, Kalender und Tagebücher ebenso wie etwa das Biopic, die Historienmalerei und das Stillleben oder die Gelegenheitsmusik je eigene gattungs- oder genretypische Verfahren und Formen.
Gattungswandel hat „(Rück-)Wirkungen auf kollektive Bewusstseinsstrukturen“ (Michler 2010), die ihrerseits gewisse Gattungspräferenzen hervorbringen (vgl. Voßkamp 1996). Sichtbar wird dies u.a. in Konjunkturen einzelner Gattungen zu bestimmten Zeiten sowie in Entstehungs- und Niedergangsnarrativen, denen ebenfalls zeitdiagnostischer Wert zukommt. Die Historizität von Gegenwart lässt sich somit im Spiegel unterschiedlicher Gattungsgeschichten betrachten. Aus kunsthistorischer Perspektive zeigt sich beispielsweise, dass die Differenzierung der Malerei in die Subgattungen sowie deren Hierarchisierung im 17. Jahrhundert symptomatisch für ihre historische Gegenwart waren (vgl. Boehm 2005). Die literaturtheoretischen Unterscheidungen in die drei Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik in der Mitte des 18. Jahrhunderts geschahen wiederum selbst unter Einbeziehung eines ‚Zeitkriteriums‘ und ordneten sie der Zeitstufen-Trias (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) auf verschiedene, teils entgegengesetzte Weise, zu (vgl. Takeda 2019, Genette 1990, Lindel 2021).
Ausgehend von diesen Beobachtungen zum Wechselverhältnis von Gattung und Gegenwart sind Beiträge beispielsweise entlang der folgenden Aspekte denkbar und erwünscht:
a) Gegenwart in (spezifischen) Gattungen:
- Wie wird Gegenwart/werden Gegenwarten in konkreten Gattungen und Genres unterschiedlicher Medien konstituiert und verhandelt?
- Welche literarischen, künstlerischen und medialen Verfahren kommen dabei zum Einsatz und wie prägen diese das jeweilige ‚Bild‘ der Gegenwart?
- Gibt es Gattungen, die besonders ‚gegenwartsfähig‘ oder geeignet sind, Gegenwärtigkeit auszudrücken? Und in welchen Gattungen hat sich zuerst ein Gegenwartsbewusstsein ausgeprägt?
- Wie gelingt es einzelnen Gattungen oder Genres, Zeiterfahrung darzustellen? Sind spezifische Formen, beispielsweise der Zeitroman, das slow cinema oder die Porträtfotografie dafür geeigneter als andere?
- Wie funktionieren Zeitreferenzen in konkreten Gattungen und Genres, beispielsweise in der Popmusik, in Historiengemälden, Briefromanen oder Krimiserien?
b) Gattungen in ihren jeweiligen Gegenwarten:
- Können einzelne Gattungen als symptomatisch oder charakteristisch für bestimmte historische, gesellschaftliche und politische Konstellationen gelten und damit zu einem Parameter von Gegenwartsdiagnosen und -bilanzen werden? Wie sieht es beispielsweise mit der Zeit- bzw. Gegenwartsdiagnose als eigener Textgattung, die spätestens ab dem 19. Jahrhundert entsteht (z.B. Fichte 1806), aus?
- Welche praxeologischen und ökonomischen Aspekte sind für Gattungskonjunkturen – auf der Ebene der Produktion (z.B. auf dem Literatur- oder Kunstmarkt) und der Rezeption (z.B. in Form einer „Medienkonkurrenz“) – relevant? Wie bilden sich, vorbei an den üblichen Gatekeepern (historisch und gegenwärtig) und außerhalb des professionellen Betriebs, Gattungen oder Genres (z.B. Fan Fiction, Sampling/Mashup, Streetart) heraus und wie werden diese Gattungskonjunkturen bewertet?
- Was ließe sich als die Gattung unserer Gegenwart bezeichnen? Welche gattungstheoretischen Herausforderungen ergeben sich in dieser Gegenwart und wie reagieren die Gegenwartsliteratur und andere Künste darauf?
c) Die Rolle von Zeitkriterien und Gegenwart in der Gattungstheorie und -geschichte:
- Welchen Stellenwert haben Gegenwart und ‚Gegenwartsfähigkeit‘, sowie andere zeit- und insbesondere aktualitätsbezogene Kriterien in der Gattungstheorie und -geschichte? Wie begegnen wir heute der historischen Debatte über das Zeitkriterium?
- Wie hat sich die Zunahme an zeitphilosophischen und -theoretischen Überlegungen im späten 18. Jahrhundert auf die Entwicklung der Gattungstheorie ausgewirkt? Wie hängt die „Verzeitlichung der Gattungspoetik“ (Takeda 2019) mit dieser Verzeitlichung des Denkens zusammen?
- Inwiefern sind auch Gattungssystematiken und -theorien symptomatisch für ihre jeweilige Gegenwart und und können somit selbst zum Gegenstand von Zeitdiagnosen werden?
- Seit wann und warum werden Fragen nach Gattungs- und Genrekonjunkturen sowie gattungstheoretisch ausgerichteten Gegenwartsbilanzen in der Wissenschaftsgeschichte der Literatur-, Medien-, Musik- und Kunstwissenschaft berücksichtigt?
Die Tagung wird vom DFG-Graduiertenkolleg 2291 „Gegenwart/Literatur“ ausgerichtet und findet vom 22.–24.06.2023 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn statt. Die Kosten für Anreise und Übernachtung übernimmt das Graduiertenkolleg; die Veröffentlichung eines Tagungsbandes ist geplant.
Bitte senden Sie Ihr Abstract (maximal 300 Wörter) für einen 20-minütigen Vortrag in deutscher oder englischer Sprache zusammen mit einer kurzen biografischen Notiz bis zum 15.01.2023 an: gattung@uni-bonn.de.
Zitierte Literatur:
- Boehm, Gottfried. „Gattung und Gattungen im historischen Prozeß.“ In: Theorie der Gattungen, Bd. 15. Hg. von Siegfried Mauser, S. 40–46, Laaber 2005.
- Fichte, Johann Gottlieb: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Leipzig 1978 [1806].
- Genette, Gérard: Einführung in den Architext, übers. v. Jean-Pierre Dubost u.a., Stuttgart 1990.
- Keckeis, Paul/Michler, Werner: Einleitung. Gattungen und Gattungstheorie. In: Gattungstheorie. Hg. von Paul Keckeis/Werner Michler, Berlin 2020, 7-48.
- Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979.
- Lehmann, Johannes F.: ,Gegenwart‘ im 17. Jahrhundert? Schwerpunkt. Hg. von Stefan Geyer/ Johannes F. Lehmann, in: Internationales Archiv zur Sozialgeschichte der Literatur (IASL) 42/1 (2017), S. 110–121.
- Luhmann, Niklas: „Soziologische Aufklärung 5: Gleichzeitigkeit und Synchronisation“. In: Ders.: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 100–130.
- Lindel, Korbinian: Das Zeitkriterium in der Gattungstheorie und die frühmoderne Lyrikdiskussion. In: Scientia Poetica 25 (2021).
- Michler, Werner: „Kontext und Gattung“. In: Handbuch Gattungstheorie. Hg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart/Weimar 2010, 87–89.
- Oesterle, Ingrid: „‚Es ist an der Zeit!‘ Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800.“ In: Goethe und das Zeitalter der Romantik (Stiftung für Romantikforschung; 21). Hg. von Walter Hinderer/Alexander von Bormann/Gerhart von Graevenitz. Würzburg 2002, S. 91–121.
- Takeda, Arata: „Die Verzeitlichung der Gattungspoetik 1768–1951. Zur Wissensgeschichte einer Fehlauslegung“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistes-geschichte 93 (2019), 157–189.
- Ullmaier, Johannes: Manual der Gegenwart. Einige Vorschläge zum Reden über Zeit. In: Gegenwart denken. Diskurse, Medien, Praktiken. Hg. von Johannes F. Lehmann/Kerstin Stüssel. Hannover 2020.
- Voßkamp, Wilhelm: „Gattungen“. In: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1996, 253–269.