Fabian Böker
Doktorand
Projekt
Ethnographie des Alltags.
Der Erfahrungsdiskurs und die Literatur der BRD (1968–)
Betreuer*innen
Jun.-Prof. Dr. Christopher Busch
»Es ist noch gar nicht so lange her, da konnte man den Begriff des Alltags als einen ganz alltäglichen Begriff gebrauchen. […] Aber nun ist der Begriff des Alltags zu einem recht unalltäglichen Begriff geworden«, schreibt der Soziologe Norbert Elias 1978. Tatsächlich ist ›Alltag‹ ein Schlüsselbegriff der 70er- und 80er-Jahre der BRD – ob in der Soziologie, Ethnographie, im Journalismus oder in der Literatur: das Normale, Gewöhnliche und Routinisierte hat eine bemerkenswerte Konjunktur. Dass dem Selbstverständlichen die Selbstverständlichkeit abhandenkommt, ist dabei durchaus programmatisch: Schlagworte wie ›Soziologie des Alltags‹ (Hammmerich/Klein), ›Ethnographie des Inlands‹ (Rutschky) oder ›Die Sensationen des Gewöhnlichen‹ (Keller/Wyss) zeugen von einer neuen, befremdenden Sichtweise auf den Alltag, die eine reichhaltige Schriftproduktion – auch in der Literatur – nach sich zieht.
Eng mit dem Konzept des Alltags verbunden ist jenes des Alltagswissens, das wiederum mit dem Begriff der ›Erfahrung‹ korrespondiert. In seinem ›Essay über die siebziger Jahre‹ Erfahrungshunger (1980) resümiert der Journalist und Soziologe Michael Rutschky, die Schriftproduktion der 70er-Jahre sei durch die Omnipräsenz von »Alltagsprosa« charakterisiert, die ihrerseits die Kategorie der »Erfahrung« produktiv mache. Der unentwegt behaupteten Unerzählbarkeit des Alltags steht – vielleicht auch wegen derselben – der Befund gegenüber, dass gerade in den 70er-Jahren (ff.) unentwegt vom Alltag erzählt wird: Autobiographisch geprägte Texte wie Rolf Dieter Brinkmanns Keiner weiß mehr (1968), Karin Strucks Klassenliebe (1973), Nicolas Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) oder Rainald Goetz’ Irre (1983) zeugen nicht nur von einer Aufwertung der des Gewöhnlichen zum Sujet der Erzählliteratur, sondern auch von dem Drang, (Alltags-)Erfahrung zu kommunizieren. In den zu untersuchenden Texten scheinen dabei implizit Paradigmen der Ethnographie und Soziologie auf: Es sind Feldforschungen im Inland, Teilnehmende Beobachtungen im Alltag, der mitunter fremdartig erscheint.
Dass in verschiedenen Wissensfeldern (Literatur, Sozialwissenschaften, Journalismus) gleichzeitig ein Interesse am Alltäglichen zu beobachten ist, ist dabei kein Zufall. Vielmehr lassen sich implizite und explizite Austauschverhältnisse nachvollziehen, in denen sich der virulente Alltagsdiskurs der 70er- und 80er-Jahre überhaupt erst konstituiert. Die ›Entdeckung des Alltags‹ als interdiskursives Projekt zu rekonstruieren und seine literarischen Ausdrucksformen in Relation zur Ethnographie und Soziologie zu beschreiben, wird dabei ebenso die Aufgabe des Projekts sein wie die Verortung und Konturierung eines spezifischen Begriffs von ›Erfahrung‹, der die 70er-Jahre wie kaum ein anderer prägt.
Profil
- seit 10/2023
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg 2291 "Gegenwart/Literatur" der Universität Bonn - 2022-2023
Volontariat im Bereich Academic Publishing, anschließend Anstellung als "Associate Editor" - WiSe 2021
Abschluss Master of Arts - WiSe 2020/21
Tutor am Institut für Germanistik, Abteilung für Neuere deutsche Literaturwissenschaft - 2017-2021
Studentische Hilfskraft am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft (ab 2019: Wissenschaftliche Hilfskraft)
t.b.a.
Brüche in der Wirklichkeit. Wissen und Wahnsinn in Kehlmanns Tyll. Vortrag im Rahmen der Buchvorstellung des Sammelbandes Wieder- und Anderserzählen von unsterblicher Narrheit in der Buchhandlung Böttger (Bonn) am 08. Juli 2024.
t.b.a.
Austauschverhältnisse: Ethnographie – Soziologie – Literatur
Literatur der 70er-/80-er Jahre
Neue Subjektivität / Neue Sensibilität
›Pop‹
Publikationen
Aufsätze
2024: Brüche in der Wirklichkeit. Wissen und Wahnsinn in Kehlmanns Tyll.
in: Peter Glasner (Hrsg.): Wieder- und Anderserzählen von unsterblicher Narrheit in Daniel Kehlmanns Tyll, Lusanne/Berlin/Bruxelles u.a. 2024 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A – Gesammelte Abhandlungen und Beiträge; Bd. 150), S. 155-193.