Inés Noé

Víctor Hugo Viscarra (1958-2006) ist ein im deutschsprachigen Feld weitgehend unbekannter bolivianischer Schriftsteller, der von der Straße der Stadt La Paz berichtet. Dabei verortet er sich selbst sozial und sprachlich im sogenannten hampa, dem von Armut und Gewalt geprägten Milieu des städtischen Lumpenproletariats. Die gesammelten Schriften Viscarras umfassen neben (halb)fiktiven Erzählungen und crónicas urbanas auch ein Wörterbuch des Coba, dem oralen Soziolekt des Bolivianischen Hochlands. Die spezifisch lateinamerikanische crónica urbana stellt Gegenwart in ästhetisch wirksamen Textprodukten kritisch dar und bewegt sich als hybrides Genre im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Bericht, wodurch sie nicht nur Apriori der Geschichtsforschung sondern auch die kategorischen Grenzen der Literaturwissenschaft in Frage zu stellen vermag. Damit liest sie sich als Gegenentwurf zur europäischen Chronik, die das koloniale Projekt in den Amerikas begleitet und konstituiert hat. Das Dissertationsprojekt spürt mit interdisziplinären Fragestellungen den ästhetischen und sozialen Komponenten Viscarras spezifischer Schreibweise nach und betont die ungewöhnliche Gattungskombination aus Wörterbuch und crónica urbana aus machtkritischer und dekolonialer Perspektive.