Alltag! Literaturgeschichte eines Theoriereservoirs seit dem 18. Jahrhundert
Online-Tagung
„Das Alltägliche, niemals wird man dem Alltäglichen genügend nahe kommen“ – was Louis Aragon in Le paysan de Paris von 1926 mehr en passant formuliert, könnte als Emblem und Motto einer ganzen Reihe moderner Literarisierungs- und Theoretisierungsversuche des Alltags vorangestellt sein. Wenn Maurice Blanchot noch 1962 konstatiert: „Der Alltag verflüchtigt sich. Das ist seine Definition“, dann macht er erneut auf den seitdem immer wieder artikulierten Umstand aufmerksam, dass der Alltag gerade in seiner Vertrautheit ungreifbar ist und daher der literarischen und theoretischen Formung bedarf: So wird es auch Karl Markus Michel in seinem Essay Unser Alltag: Nachruf zu Lebzeiten von 1975 pointieren, indem er parallel vorführt, dass der Alltag erstens unerzählbar und zweitens unbedingt erzählbar ist – die Liste der Beispiele ließe sich bis in die unmittelbare Gegenwart verlängern.
Dieser Intuition will die Tagung nachgehen und stellt dabei auf die Beobachtung ab, dass der Alltag gerade aufgrund seiner angeblich uneinholbaren Konventionalität immer wieder Situationen der Formung und Theoretisierung erzeugt, die sich in historischen Kontexten und als Literaturgeschichte des Theoriereservoirs ‚Alltag‘ rekonstruieren lassen. Form und Theorie sind dabei nicht unabhängig voneinander zu denken: Man kann den Roman so gut wie den Essay, das Tagebuch oder das Gelegenheitsgedicht als die dem Alltäglichen beikommende Gattung prämieren. Man kann die ‚Entdeckung des Alltags‘ umgekehrt auf die Affinität der Disziplinen (Soziologie, Ethnographie) zu spezifischen Genres (Reportage) zurückführen. Die Tagung interessiert sich für – auch kanonisch durchaus randständige – Konstellationen, in denen der Alltag und das Alltägliche als Theoriereservoir ernst genommen wurden, mithin für Situationen theoretischer Phantasie, deren zentraler Bezugspunkt eine der literatur- und kulturwissenschaftlichen Beschreibung zugängliche Vorstellung von Alltag bildet. Die Einflussnahme des Themas bzw. der Struktur ‚Alltag‘ und seiner Darstellungsweise ist dabei wechselseitig, wenn einerseits der Alltag Gattungen braucht, die ihn repräsentierbar machen, aber andererseits gerade durch die Beschäftigung mit dessen Phänomenen eine Arbeit an literarischer und theoretischer Form in Gang gebracht wird. Es geht folglich darum, in historisch einschlägigen Kontexten die Produktivität der Kategorie Alltag/Alltäglichkeit zu analysieren.
Wir gehen davon aus, dass es sich bei der beschriebenen Konfiguration des theoretisch-formalen Produktivwerdens von Alltäglichkeit um ein modernes Motiv handelt, das seit der Sattelzeit in unterschiedlichen Zusammenhängen variiert wird. Die Vorträge sollen sich diesen Konstellationen im Kontext der Zäsuren von 1800, 1900 und 2000 widmen, wobei mit Blick auf die Produktivität der Kategorie noch zwei Mesozäsuren in der Mitte des 19. und des 20. Jahrhunderts einzuziehen wären (‚um 1850‘ und ‚um 1968‘).
Als Startpunkt der anvisierten Geschichte ließe sich im 18. Jahrhundert mit Erich Auerbach die Öffnung des Möglichkeitsraums der Literatur als einer referenznahen und historisierenden Sprechform nennen: Literatur interessiert sich für die Beschreibung von Lebensbereichen mit klar verorteten sozialen, zeitlichen und räumlichen Indices. Analog dazu wird die soziale Dimension des Alltäglichen in den Benimmbüchern, Verhaltens- und Geselligkeitslehren um 1800 (Garve, Knigge, Schleiermacher) und den in ihnen beobachtbaren Regulierungsvorschlägen für den Umgang unter Menschen ausbuchstabiert. Der Alltag wird hier zu einer Kontrastfolie, die insbesondere in der romantischen Literatur (Tieck, Hoffmann, Eichendorff) dazu genutzt wird, die Poesie des Außergewöhnlichen zu konturieren, etwa anhand der Opposition von Künstler und Philister – einschlägig ist in diesem Zusammenhang Hegels Verknüpfung des „Romanhafte[n]“ mit der „Prosa der Wirklichkeit.“ In der Zeit nach der Romantik ist dann eine zunehmende Aufwertung des Alltags als eigenständiger Topos zu beobachten, der u.a. in Vorworten, Rezensionen und Essays eigens reflektiert wird. Balzacs Avant Propos der Comédie humaine (1842) oder Gutzkows Überlegungen zum „Roman des Nebeneinander“ (1850) sowie seine Auseinandersetzung mit Julian Schmidt und Gustav Freytag über dessen Roman Soll und Haben (1855) ließen sich hier als Beispiele anführen. Eine Aufwertung des Alltags gibt sich auch mit Schreibprojekten wie Hebbels Tagebüchern oder der Programmatik und Textproduktion des Naturalismus zu erkennen (Holz/Schlaf). Bedeutsam für die Literaturgeschichte des Alltags ist zudem die komische Literatur, die in Zusammenhang mit der Ständeklausel von jeher mit dem Alltagsleben verbunden war. Dies zeigt sich noch in der Komiktheorie des 19. Jahrhunderts (Schütze, Vischer) sowie in humoresken Alltagsdarstellungen (Jean Paul, Raabe, Busch), die bereits mit den Mitteln der Verfremdung und des Fremdwerdens arbeiten. Solche Mittel spielen schließlich in der Zeit um 1900 sowohl in der Literatur als auch in der Ästhetik und der Philosophie eine kardinale Rolle (z.B. Hofmannsthal, Kafka, Šklovskij, Heidegger). Ließen sich die skizzierten Überlegungen bestätigen, würde die verbreitete These, der Alltag erlange erst um 1900 Theoriewürdigkeit, entschieden modifiziert. Das Ziel ist es dabei keineswegs, die Virulenz und Ausformung entsprechender Konzeptionen, etwa in der Soziologie Georg Simmels, abschwächen zu wollen: Das Aufkommen der Alltagssoziologie mit ihren Affinitäten zu den literarischen Formen Reportage und Essay wie auch die thematische Orientierung der klassisch-modernen Literatur am Alltag können auf diese Weise als Parallelaktion genauso in den Blick rücken wie die in den 1960er Jahren sich intensivierende Rezeption surrealistischer Autoren im revolutionsaffinen und linksalternativen Milieu. Hier ließe sich dann neben der eingangs erwähnten Sentenz Aragons (dt. Erstübersetzung 1969) auch Karl Markus Michels Analyse der Pariser Graffiti aus dem Mai 1968 im berüchtigten Kursbuch Nr. 15 („L’art est mort, libérons notre vie quotidienne“) und Karl Heinz Bohrers Studien zu ‚Surrealismus und Terror‘ unter der Überschrift Die gefährdete Phantasie (1970) verorten. Es wäre zu fragen, wie sich diese Artikulationen des Themas und ihre baldige satirische Verarbeitung (Chlodwig Poth: Mein progressiver Alltag) zu seiner Proliferation im engeren Bereich soziologischer bzw. ‚allgemeiner‘ Theoriebildung verhalten: Welche Transfers lassen sich zwischen den genannten, verschiedene Gebiete des literarischen Feldes bespielenden Texten und der Aktivierung des Reservoirs in unterschiedlichen Theoriebereichen beobachten? Neben den genannten Wiederaufnahmen der avantgardistischen und surrealistischen Alltagsfaszination wären an dieser Stelle für die Zeit ‚um‘ und ‚nach‘ 1968 zu nennen: Roland Barthes’ Mythen des Alltags (1957, dt. 1964), Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns wissenssoziologischer Klassiker Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1966, dt. 1969), Thomas Leithäusers Untersuchung zur Konstitution des Alltagsbewußtseins (1972), Henri Lefebvres Das Alltagsleben in der modernen Welt (1968, dt. 1972) wie auch seine Kritik des Alltagslebens (in Teilen bereits 1947, dt. in drei Bänden 1974), Ágnes Hellers Das Alltagsleben (dt. 1978), Norbert Elias’ Zum Begriff des Alltags (1978), Michel de Certeaus L’Invention du Quotidien (1980, dt.: Kunst des Handelns, 1988) und eine Reihe weiterer Publikationen, die etwa Anregungen aus der Alltagssoziologie Alfred Schütz’ und der Rahmenanalyse Erving Goffmans genauso aufnehmen wie aus der Ethnomethodologie Harold Garfinkels und schließlich auch die Geschichtswissenschaft erreichen (etwa Alf Lüdtkes Forschungen zur Alltagsgeschichte). Dabei entdeckt die zeitgenössische Essayistik das Thema ebenso für sich (Kursbuch 41, 1975: „Der Alltag“), wie es zum Titelspender für eine langlebige deutschsprachige Zeitschrift wird (1978 bis 1997): Der Alltag. Sensationsblatt des Gewöhnlichen. Ihr Schriftleiter seit Mitte der 1980er Jahre, Michael Rutschky, war bereits Ende der 1970er mit Publikationen zur Ethnographie des Alltags einschlägig hervorgetreten. Es ist hieran anknüpfend schließlich davon auszugehen, dass sich um 2000 eine weitere Zäsur in der Beschäftigung mit Alltagsphänomenen feststellen lässt, die durch Modifikation dominanter Subjektkonstitutionen und Technisierung des Privaten bedingt ist. Das unter den Bedingungen der Digitalisierung seit 2014 geführte und mittlerweile auf über 32.000 PDF-Seiten angewachsene Techniktagebuch (Kathrin Passig, Aleks Scholz u.a.), das sich als fortlaufender Kommentar zur (vorrangig) digitalen Technisierung des Alltags versteht, die es dabei zugleich sprachlich und bildlich archiviert, stellt dies vor Augen.
Die vorliegende Skizze einer in ihren Konstellationen und Verflechtungen allererst noch zu rekonstruierenden Literaturgeschichte wird dabei immer auch deutlich zu machen haben, dass das Theoriereservoir ‚Alltag‘ entscheidend Anteil an der Konstruktion dessen hat, was als ‚aktuell‘ und ‚gegenwärtig‘ gilt und demnach unter unterschiedlichen Vorzeichen kultureller Normalisierung und Kanonisierung ausgesetzt ist.
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Vanessa Briese, Christopher Busch, Stefan Geyer, Alexander Kling und Tímea Mészáros