Kriminalerzählungen der Gegenwart. Rezeption – Fiktionalität – Ethik

Online-Tagung

In Rezensionen zu aktuellen Kriminalromanen kann man immer wieder die Floskel lesen, es handele sich bei dem vorliegenden Text um ‚mehr als nur einen Krimi‘ - eine Aussage, die den unsicheren Status des Genres in der Gegenwart anschaulich macht. Einerseits kann die Besprechung von Genreliteratur im Feuilleton als symptomatisches Zeichen einer wertungsgeschichtliche Wende verstanden werden, andererseits kommt die literarische Aufwertung und Anerkennung bezeichnenderweise gerade in der Löschung des Genres zum Ausdruck. So gibt der Deutschlandfunk Paulus Hochgatterers Einstellung zu seinen Romanen, in denen Psychiater Horn und Kommissar Kovacs gemeinsam ermitteln, mit den Worten wider, diese „sollen nicht ausschließlich als Krimis gelesen werden“, schließlich „lege [er] literarische Maßstäbe an.“ Eine Besprechung der True-Crime-Podcasts Zeit Verbrechen, Täter unbekannt und Verified hingegen versieht die Genrereflexion mit einem Fragezeichen: „Mehr als nur Krimi?“

Nicht nur die literarische Öffentlichkeit, auch eine namentlich an kulturwissenschaftlichen Forschungsperspektiven interessierte Literaturwissenschaft richtet seit längerem ihre Aufmerksamkeit auf ein Genre, das ihr, wie Heta Phyrhönen in ihrer Studie Murder from an Academic Angle schreibt, als „Labor“ dient, in dem verschiedene Hypothesen und Methoden erprobt werden können („as a kind of laboratory for testing various critical hypotheses and methodologies“ (Pyrhönen 1994: 6)). Seit der berühmten Reihe rororo thriller, die 1961 von Richard K. Flesch begründet wurde, und seit der von Jochen Vogt im deutschsprachigen Bereich initiierten Grundlagenforschung der 1970er Jahre haben sich die Parameter der buchhändlerischen Präsentation und der fachwissenschaftlichen Diskussion des Genres nachhaltig verschoben. In der Konsequenz verfügen wir nicht nur über eine kanonische Auswahl der als mustergültig anerkannten Realisationen des Genres samt ihrer (nationalphilologischen) Geschichte, sondern können auch eine immer weiter ausgreifende Genredifferenzierung auf dem Buchmarkt beobachten – eine Entwicklung, die Thomas Wörtche bereits 2003 sarkastisch kommentierte:

Hinter dem Heimat-Krimi lauert aber schon die nächste marketing-gestützte Trendbombe: Der historische Krimi (Kombinatorik: historische Romane und Verbrechen von heute im Wams von dunnemals). Kaum ein[e] Epoche wird verschont werden, und historische Epochen haben zudem noch den Vorteil, ihrerseits wieder untergliederbar zu sein – regional, sexuell, mit Katzen, ohne Köche, mit Friseuren. […] Toll. (Wörtche 2003)

Diese als Parodie gedachte Liste hat sich bis in die Gegenwart (mit wenigen Ausnahmen) in eine mediengeschichtliche Realität verwandelt, die nicht nur den Buchmarkt erfasst. Der feingliedrigen Ausdifferenzierung der immens populären literarischen Erzählungen von Kriminalität in diverse Subgenres lassen sich weltweit erfolgreiche TV-Formate wie CSI, Criminal Minds, The Closer oder die zweifache Filmadaption von Stieg Larssons Millenium-Trilogie zur Seite stellen, mit ihren medienspezifischen epistemologischen Strategien der Wahrheitsermittlung sowie andere narrative Formate wie das Hörspiel oder der Podcast. Diese Formate erleben im Zeichen eines allgemeinen Rezeptionshungers nach erzählter Kriminalität (vgl. Schönert 1991) aktuell einen kulturellen Aufschwung. Kurz gesagt: Die ubiquitäre Verbreitung von Kriminalerzählungen gehört zu den unübersehbaren kulturgeschichtlichen Kennzeichen der Gegenwart.

Angesichts dieser transnationalen und transmedialen Hochkonjunktur des Krimi-Genres werden spezifische Fragestellungen erneut virulent, die die kriminalliterarische Produktion wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Genre seit jeher begleiten: 1. die Frage nach dem Verhältnis von Ästhetik und Ethik in der Betrachtung eines Genres, das „murder as one of the fine arts“ (De Quincey 1827) narrativ funktionalisiert, und 2. die Frage nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion.

Das Erzählen von Kriminalität wirft naheliegenderweise zahlreiche ethische Fragen auf. Hatten sich die Kriminal-Geschichten (1813) August Gottlieb Meißners in der programmatischen Trennung von „gesezlicher und moralischer Zurechnung“ (Meißner [1793] 2003: 10) dem Verstehen des Verbrechers verschrieben und so für die erzählende Auseinandersetzung mit Kriminalität gegenüber der juristischen Urteilsfindung gerade die moralische Beurteilung als das eigenständige Feld der Literatur behauptet (Beck 2017), so steht die gegenwärtige Kriminalliteratur unter den gänzlich anderen kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen des 20. Jahrhunderts auffällig im Bann der Lust- bzw. Serienmörder und der Zeichenhaftigkeit ihrer Taten, die von Profilern mit Bedeutung versehen werden.

Meißners Texte zeugen exemplarisch von einem spezifischen moralischen Wissen der Literatur um Herz und Seele des Täters; für die zeitgenössische Fiktionen wäre zu diskutieren, welche Sinnverständigungen sie über diese Figuren des Monströsen verhandeln – oder ob sie in einer Überbietungsrhetorik befangen bleibt, die allein die Lust am Spektakel der Zerstückelung und seiner textuellen Reproduktion kennt. So ist kriminalliterarisches Erzählen in vielfacher Hinsicht mit der Frage nach dem Zusammenhang von Ethik und Fiktionalität befasst – ein Verhältnis, das gerade in den letzten Jahren diskutiert wurde (Nünning 2015). Als Genre dient die narrative Verarbeitung von Kriminalität (auch) der Unterhaltung. Die Tatsache, dass Menschen die Darstellung von Gewalt und Verbrechen genießen können, hat mit einer narrativen Distanz zum Dargestellten zu tun, die in den meisten Fällen durch die Fiktionalität der Erzählung erzeugt wird. Damit unterliegt die Kriminalerzählung in besonderer Weise der traditionsreichen Fiktionskritik (Franzen 2018), die gerade Genreliteratur seit ihrer massenhaften Verbreitung in der Moderne mit äußerster Skepsis verfolgt. Welche Folgen kann es (gerade für ‚gefährdete‘ Lesegruppen wie Jugendliche oder Frauen) haben, sich zum Zweck der Unterhaltung und des Eskapismus an der Erzählung von Kriminalität zu ergötzen?

Diese Fragen werden dadurch, dass sich Kriminalerzählungen in der Gegenwart als Leitgenre der Unterhaltungsmedien durchgesetzt haben, in besonderer Weise fruchtbar. Einerseits wurden die entsprechenden Darstellungsformen literarischer Texte standardisiert und normalisiert, sodass die um sie zentrierten kulturkritischen Stimmen nach und nach verstummten. Eine Wiederkehr der 1910 von der Hochwacht initiierten Debatte um „die Frage nach der Zulässigkeit oder des Ausschlusses von Kriminalromanen überhaupt“ ist heute kaum mehr denkbar. Andererseits lassen sich Debatten über die Gefahrenpotentiale textueller und visueller Fiktionen im Kielwasser mediengeschichtlicher Innovationen immer wieder aufs Neue beobachten. Der Erfolg von Videospielen wie Grand Theft Auto etwa aktiviert alte und neue Ängste und belebt eine gegenwärtige fiktionskritische Debatte.

Dazu kommt ein Boom faktualer Formate, die (zur Unterhaltung) von realer Kriminalität erzählen. Waren bereits Publikationen wie der Ursprungs-Pitaval und der sog. Neue Pitaval (1842–1890), der sich der „innerste[n] Sittengeschichte unserer Zeit“ (NP 13, VI) verpflichtete, zeitgenössische Bestseller, so sind auch gegenwärtig True-Crime-Podcasts (Serial, Zeit-Verbrechen) und -Bücher ungemein erfolgreich; auch entsprechende TV-Formate gehören zu den meistdiskutierten Erzählungen der Gegenwart (How to make a Murder, The Jinx und zuletzt Tiger King). Im Unterschied zu Serien mit festen Erzählschemata – wie etwa die Produktionen aus dem Law & Order-Franchise – dominieren gegenwärtig anthology serials mit komplexen Erzählverfahren das kulturelle Gespräch. Es handelt sich dabei oft um Wieder-Erzählungen alter Fälle, die die Geschichte hinter der Geschichte des Verbrechens und seiner juristischen Aufarbeitung aufdecken wollen (American Crime Story oder When They See Us) und so das gesellschaftskritische Beobachtungspotenzial eines Genres aktivieren, das immer schon mit der reflexiven Herstellung von Wahrheit befasst ist.

Die Neigung zur fiktionalisierenden Bearbeitung realer Verbrechen stellt nicht nur die ethischen Fragen an das Genre neu, sondern zeigt überdies, dass die Verarbeitung von Fakt in Fiktion eine der zentralen und auch historisch einflussreichen Quellpunkte für die Popularität kriminalliterarischer Erzählungen ist. In diesem Zusammenhang klärt sich auch die Ambivalenz in der Wertungsgeschichte des Genres, denn die Rezeption von Kriminalerzählungen in der Moderne schwankt zwischen Wirkungsangst und Wirkungshoffnung, zwischen dem Vorwurf, die Realität des Verbrechens zu glorifizieren oder anderweitig zu verzerren und der Hoffnung, sie könne die ethischen Probleme einer Gesellschaft offen legen. So lässt sich die Popularität eines Genres erklären, das immer schon in Anspruch nimmt, die latent gehaltenen Probleme der gesellschaftlichen Ordnung aufzudecken, die sich im Konstrukt der Kriminalität verdichten. Kriminalerzählungen wird so oft ein gesellschaftskritischer Impetus zugeschrieben, der sich beispielsweise gegen Verdrängung und Tabuisierung richtet und sich in der deutschsprachigen Literaturgeschichte wirkmächtig im sogenannten neuen deutschen Kriminalroman zu einem eigenständigen Genretypus ausgeprägt hat (Beck 2017).

Die aktuelle Forschung diskutiert das Genre unter anderem unter zwei Gesichtspunkten: Wessen Geschichte wird erzählt, wessen ‚Wahrheit‘ wird in der erzählten Welt repräsentiert? Welche „Ermittlungspraktiken“ (Bergengruen 2015) und epistemologischen Verfahren der Wahrheitsproduktion werden in den kriminalliterarischen Fall-Geschichten durchgespielt? Während sich im deutschsprachigen Raum zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Genredifferenzierung in ‚Detektivroman‘ und ‚Thriller‘ entlang der rezeptionsorientierten Gegenüberstellung von ‚guter‘ analytischer Denkübung und ‚schlechter‘ Adressierung an destruktive Affekte vollzog, haben diese Überkreuzführungen von ästhetischen und ethischen Fragestellungen im Forschungszeitalter der gender und postcolonial studies ein anderes Gewicht.

Und schließlich haben auch die weltweiten Proteste gegen Polizeigewalt seit der Ermordung George Floyds am 25. Mai 2020 dazu geführt, dass die Erzählungen von Kriminalität ethisch und politisch auf den Prüfstand gestellt wurden. Dabei stellt sich unter anderem die alte Frage, inwiefern die entsprechenden Narrative das Bild und die Bewertung der Ordnungsmacht positiv beeinflussen und so die kulturelle Bereitschaft für angemessene Kritik, etwa an rassistischen Ermittlungspraktiken, hemmen. Diese Frage führt zurück auf die Geschichte der narrativen Struktur und Strategien der Sympathielenkung in den Erzählungen, die sich von einer Konzentration auf die Motive und Herkunft der Verbrecher zu einer Konzentration auf die Seele der Ermittler gewandelt haben (Beck 2020). Diese Konzentration auf die Ermittlerfiguren geht etwa auch mit einer zeitgenössischen Konjunktur des Polizisten als Antiheldenfigur in Serien einher, die zwar einerseits zur moralischen Ambivalenz in der Charakterisierung der Ermittler*innen beiträgt, die aber andererseits unterschwellig eine bestimmte Form von Fehlverhalten glorifiziert (Franzen 2015).

Die Tagung nähert sich vor diesem Hintergrund aktuellen Tendenzen kriminalliterarischen Erzählens in ausgewählten textuellen und (audio-)visuellen Fiktionen. Verfolgt wird eine integrative Forschungsperspektive, die die literaturwissenschaftlichen Grundsatzfragen von Fakt/Fiktion mit Ästhetik/Ethik in der Genrediskussion verbindet. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei Rekurrenzen standardisierter Figurationen, etwa der Fortschreibung der topischen Figuration Serienmörder – Profiler, der Aktualisierung des Lustmörder-Narrativs der 1920er Jahre in der Engführung mit der gegenwärtigen Vorliebe für true crime (von H. Strunks Der goldene Handschuh bis hin zu beliebten Podcast Formaten wie Zeit-Verbrechen), der Stabilisierung der Kanonbildung qua Remediatisierung kanonischer Detektivfiguren (etwa in den Serien Sherlock und Elementary) und der Wiederaufführung der hard boiled-Ästhetik des noir (etwa Bosch), aber ebenso die ethische Frage nach der emotiven Wirkung. So wäre der Detektiv als „Sachwalter des fragenden Lesers“ (Alewyn 1968) nicht nur als strategische Figuration der genretypischen Desinformationspolitik zu betrachten, sondern auch die an sie gehefteten textuellen Emotionalisierungsangebote.

Infobox

Freitag, 23. April 2021
ab 10 Uhr
via ZOOM

Samstag, 24. April 2021
ab 10 Uhr
via ZOOM

Organisation
Sandra Beck und Johannes Franzen

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