Sensus Non-Communis. Gegenwarten im Widerstreit
Internationale Tagung
Eine produktive Auseinandersetzung mit dieser Zeitdiagnose fände eine wichtige Ressource in der älteren Kritik am westlichen Universalismus. Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, Lyotards Le différend, Saids Orientalism, die Arbeiten Gayatri Chakravorty Spivaks – um nur einige einschlägige Referenzen zu nennen – übten eine Fundamentalkritik an den universalistischen Ansprüchen westlicher Werte oder zeigten die Hypokrisie auf, mit welcher der kolonialistische Westen gegen seine eigenen Prinzipien handelt. Die aktuelle Diskussion um die Grenzen des Gemeinsamen nimmt viele der gleichen Fragen wieder auf und führt sie neu ausgerichtet weiter. Statt mit Spivak zu fragen, ob der Subalterne sprechen kann, wird jetzt gefragt, wer für wen sprechen darf. Während die Forderung nach Inklusivität voraussetzt, dass historisch unterdrückte Stimmen in einen als allgemein teilbar vorgestellten Diskurs aufgenommen werden können, scheint nun die Kritik an Formen kultureller Aneignung oder der Anmaßung des Verstehens marginalisierter Kulturen just dies auszuschließen. Die Relevanz der älteren Universalismuskritik für die aktuelle Debatte wäre noch zu erkunden. Aber auch die weit verästelte Geschichte des sensus communis selbst hält wertvolle Potentiale für die gegenwärtige Auseinandersetzung bereit, kommt doch die Behauptung einer
Unüberwindbarkeit von Differenzen nicht ohne Appell an ein allgemein verfügbares Urteilsvermögen aus. In welchem Medium soll das Fehlen eines gemeinsamen Mediums und in welcher Gegenwart das Ende der Gegenwärtigkeit festgestellt werden? Mit “sensus non-communis” ist auch ein derart unhintergehbar Geteiltes bei dem Anzeigen von Unteilbarem gemeint – einen möglicherweise doch geteilten Sinn dafür, was die eigene Sichtweise von denen anderer immer schon trennt. Umgekehrt ließe sich fragen, wie sich die Geschichte des sensus communis vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskussionen neu lesen lässt.
Historisch soll die Tagung eine Brücke zwischen vormodernen und gegenwärtigen Belangen schlagen. Frühneuzeitliche und aufklärerische Kontexte bieten reichlich Stoff für die Beschäftigung mit Fragen des sensus communis und non-communis, des Teilbaren und Unteilbaren, des Öffentlichen und Privaten. Es ließe sich etwa denken an: Hobbes’ Figur einer geeinten Öffentlichkeit bei gleichzeitiger Wahrung des inneren, dem Individuum
anheimgestellten Glaubens; Margaret Cavendishs Vision einer Politik des Gemeinsamen, die Fantastisches genauso einbezieht wie Nicht-Menschliches; Vicos sensus communis als Repositorium kulturübergreifender Topoi; Baumgartens ästhetisch-ethischen nexus; Shaftesburys sensus communis als Humor, Wielands kosmopolitischer Laune und nicht zuletzt Kants sensus communis aestheticus. Noch frühere Perioden, von Bernhard von Clairvaux bis zu Jakob Böhme, bieten weitere Perspektiven, wie etwa eine Universalität, die
nicht an die Subjektivität gebunden ist, oder einen Begriff des Seins, der alle Individuation übersteigt. Insbesondere mit der mystischen Tradition verschieben sich die Bedingungen der Debatte vom interkulturellen Dialog auf die Beziehungen zwischen den Wesen und Arten. Für die genannten Autor:innen erweist sich nicht nur ein wie auch immer gearteter sensus communis, sondern auch ein sensus non-communis als das unausweichliche Band zwischen Wesen, die nichts gemeinsam haben außer ihrem gemeinsamen Ort, also der Gegenwart, die sie teilen, und dem Idiom oder den Gemeinplätzen, in denen sie kommunizieren. Die von Melvilles Bartleby wiederholte Formel “I would prefer not to” kann als Erinnerung an die unassimilierbaren Unterschiede dienen, die unser individuelles und kollektives Verständnis herausfordern und uns dazu anhalten, unsere “premises” – ein durchgängiges Wortspiel in Bartleby – als soziale Wesen und Mitglieder einer Gemeinschaft neu zu verhandeln.
Konzeption: Christiane Frey, David Martyn, Rochelle Tobias
[1] David Brooks, “Universities are failing at inclusion”, New York Times, 16. Nov. 2023 (Übers. Martyn).
Infobox
Donnerstag, 13. Juni 2024
ab 09:45 Uhr
Centre Ernst Robert Curtius, Konrad-Zuse-Platz 1-3, 53227 Bonn
Freitag, 14. Juni 2024
ab 09:30 Uhr
Centre Ernst Robert Curtius, Konrad-Zuse-Platz 1-3, 53227 Bonn
Organisation
Max Kade Center for Modern German Thought der Johns Hopkins University und DFG GRK 2291 Gegenwart/Literatur
Anmeldung
bis 07.06.2024 an grk229@uni-bonn.de
Programm
09:45 Uhr Begrüßung
10:00 Gabriel Trop (Durham): Giordano Bruno: On the Power of the Bond
10:45 Glen Gray (Baltimore): Die Grenzen des Mitleids: Enteignung der Gefühle bei Metastasio
11:30 Kaffeepause
12:00 Christian Moser (Bonn): Der bon sens des versammelten Volks: Revolution - Theater - Gemeinwille, 1789-1793
12:45 Christiane Frey (Baltimore): "…in ihrer Art ungemein": Launiges Unvernehmen zwischen Shaftesbury, Wieland und Kant
13:30 Mittagessen
14:30 Luke Beller (Baltimore): "Das gesellige Gesetz": (Un-)Sociability between Kant and Schiller
15:15 David Martyn (St. Paul): "…wir verstehen uns einander nicht": Maimon, Reinhold und die unbeherrschbare Inklusivität des Streitgesprächs
16:00 Kaffeepause
16:30 Jürgen Fohrmann (Bonn): 'Gemeine Sense': Reziprozitätsannahmen und Operativität des sensus communis
Ab 18:00 Gemeinsames Abendessen
09:30 Katharina Kraus (Baltimore): Kant on the Human Perspective, the Formation of Meaning, and the Sensus Communis
10:15 Kaffeepause
10:30 Rochelle Tobias (Baltimore): On the History of Forgetting: Kafka’s “Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse”
11:15 Fabian Rüther (Bonn): West-östliche Epochenverschleppungen: Gregor von Rezzoris Ein Hermelin in Tschernopol und der Mythos "Mitteleuropa"
12:00 Mittagessen
13:00 Sophie Modert (Bonn): Österreichisches Vaterland und deutsche Nation: Zum Verhältnis von Schulstufe und kultureller Identität im Österreich des 19. Jahrhunderts
13:45 Sarah Goeth (Aachen): Beobachteter Gemeinsinn: Statistisches Erzählen des Sozialen im 19. Jahrhundert
14:30 Kaffeepause
14:45 Inés Noé (Bonn): Das lateinamerikanische testimonio als literarische Intervention: Politische Fragen zur Ästhetik im Spannungsfeld zwischen sprechen und schreiben
15:30 Pablo Valdivia (Frankfurt/Oder): Sensus communis oder commons: Überlegungen zum Verhältnis von Besitz, Ästhetik und Gemeinschaft in der kolonialen Moderne
16:15 Kaffeepause
16:30 Dorothea von Mücke (New York City): Sensus communis for Immanuel Kant, Hannah Arendt, and Ana María Goméz Lopéz
Response by Ana María Goméz Lopéz
17:30 Abschlussdiskussion
ab 19:00 Gemeinsames Abendessen