Sensus Non-Communis. Gegenwarten im Widerstreit

Internationale Tagung

Einer gängigen Auffassung zufolge ist die heutige Zeit charakterisiert durch eine radikale Nicht-Gemeinschaftlichkeit. “Wir sollten nicht betonen, was alle  Menschen verbindet, sondern vielmehr das, was uns trennt [...]: Mitglieder einer Gruppe können die Erfahrungen anderer Gruppen nie wirklich nachvollziehen”[1] – so die Rede, die zunehmend Geltung beansprucht. Bei diesem Verweis auf Nicht-Teilbarkeit geht es nicht einfach um unüberwindbare Meinungsverschiedenheiten. Angezweifelt wird vielmehr die Möglichkeit, anschlussfähig zu kommunizieren, einander am selben Ort oder zur selben Zeit gegenüberzutreten, und sei es auch agonistisch. Ein solches Gegenübertreten, etwa im Kampf oder vor Gericht, meinte bekanntlich das deutsche Wort Gegenwart in seiner ursprünglichen Bedeutung. Die neue Nicht-Gemeinschaftlichkeit wäre demnach das Ende einer Gegenwärtigkeit, wie sie lange für gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Prozesse bestimmend war.

Eine produktive Auseinandersetzung mit dieser Zeitdiagnose fände eine wichtige Ressource in der älteren Kritik am westlichen Universalismus. Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, Lyotards Le différend, Saids Orientalism, die Arbeiten Gayatri Chakravorty Spivaks – um nur einige einschlägige Referenzen zu nennen – übten eine Fundamentalkritik an den universalistischen Ansprüchen westlicher Werte oder zeigten die Hypokrisie auf, mit welcher der kolonialistische Westen gegen seine eigenen Prinzipien handelt. Die aktuelle Diskussion um die Grenzen des Gemeinsamen nimmt viele der gleichen Fragen wieder auf und führt sie neu ausgerichtet weiter. Statt mit Spivak zu fragen, ob der Subalterne sprechen kann, wird jetzt gefragt, wer für wen sprechen darf. Während die Forderung nach Inklusivität voraussetzt, dass historisch unterdrückte Stimmen in einen als allgemein teilbar vorgestellten Diskurs aufgenommen werden können, scheint nun die Kritik an Formen kultureller Aneignung oder der Anmaßung des Verstehens marginalisierter Kulturen just dies auszuschließen. Die Relevanz der älteren Universalismuskritik für die aktuelle Debatte wäre noch zu erkunden. Aber auch die weit verästelte Geschichte des sensus communis selbst hält wertvolle Potentiale für die gegenwärtige Auseinandersetzung bereit, kommt doch die Behauptung einer
Unüberwindbarkeit von Differenzen nicht ohne Appell an ein allgemein verfügbares Urteilsvermögen aus. In welchem Medium soll das Fehlen eines gemeinsamen Mediums und in welcher Gegenwart das Ende der Gegenwärtigkeit festgestellt werden? Mit “sensus non-communis” ist auch ein derart unhintergehbar Geteiltes bei dem Anzeigen von Unteilbarem gemeint – einen möglicherweise doch geteilten Sinn dafür, was die eigene Sichtweise von denen anderer immer schon trennt. Umgekehrt ließe sich fragen, wie sich die Geschichte des sensus communis vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskussionen neu lesen lässt.

Historisch soll die Tagung eine Brücke zwischen vormodernen und gegenwärtigen Belangen schlagen. Frühneuzeitliche und aufklärerische Kontexte bieten reichlich Stoff für die Beschäftigung mit Fragen des sensus communis und non-communis, des Teilbaren und Unteilbaren, des Öffentlichen und Privaten. Es ließe sich etwa denken an: Hobbes’ Figur einer geeinten Öffentlichkeit bei gleichzeitiger Wahrung des inneren, dem Individuum
anheimgestellten Glaubens; Margaret Cavendishs Vision einer Politik des Gemeinsamen, die Fantastisches genauso einbezieht wie Nicht-Menschliches; Vicos sensus communis als Repositorium kulturübergreifender Topoi; Baumgartens ästhetisch-ethischen nexus; Shaftesburys sensus communis als Humor, Wielands kosmopolitischer Laune und nicht zuletzt Kants sensus communis aestheticus. Noch frühere Perioden, von Bernhard von Clairvaux bis zu Jakob Böhme, bieten weitere Perspektiven, wie etwa eine Universalität, die
nicht an die Subjektivität gebunden ist, oder einen Begriff des Seins, der alle Individuation übersteigt. Insbesondere mit der mystischen Tradition verschieben sich die Bedingungen der Debatte vom interkulturellen Dialog auf die Beziehungen zwischen den Wesen und Arten. Für die genannten Autor:innen erweist sich nicht nur ein wie auch immer gearteter sensus communis, sondern auch ein sensus non-communis als das unausweichliche Band zwischen Wesen, die nichts gemeinsam haben außer ihrem gemeinsamen Ort, also der Gegenwart, die sie teilen, und dem Idiom oder den Gemeinplätzen, in denen sie kommunizieren. Die von Melvilles Bartleby wiederholte Formel “I would prefer not to” kann als Erinnerung an die unassimilierbaren Unterschiede dienen, die unser individuelles und kollektives Verständnis herausfordern und uns dazu anhalten, unsere “premises” – ein durchgängiges Wortspiel in Bartleby – als soziale Wesen und Mitglieder einer Gemeinschaft neu zu verhandeln.

Konzeption: Christiane Frey, David Martyn, Rochelle Tobias

[1] David Brooks, “Universities are failing at inclusion”, New York Times, 16. Nov. 2023 (Übers. Martyn).

Infobox

Donnerstag, 13. Juni 2024
ab 09:45 Uhr 
Centre Ernst Robert Curtius, Konrad-Zuse-Platz 1-3, 53227 Bonn

Freitag, 14. Juni 2024
ab 09:30 Uhr
Centre Ernst Robert Curtius, Konrad-Zuse-Platz 1-3, 53227 Bonn

Organisation
Max Kade Center for Modern German Thought der Johns Hopkins University und DFG GRK 2291 Gegenwart/Literatur

Anmeldung
bis 07.06.2024 an grk229@uni-bonn.de

Programm

09:45 Uhr Begrüßung 

10:00 Gabriel Trop (Durham): Giordano Bruno: On the Power of the Bond

10:45 Glen Gray (Baltimore): Die Grenzen des Mitleids: Enteignung der Gefühle bei Metastasio

11:30 Kaffeepause 

12:00 Christian Moser (Bonn): Der bon sens des versammelten Volks: Revolution - Theater - Gemeinwille, 1789-1793

12:45 Christiane Frey (Baltimore): "…in ihrer Art ungemein": Launiges Unvernehmen zwischen Shaftesbury, Wieland und Kant

13:30 Mittagessen 

14:30 Luke Beller (Baltimore): "Das gesellige Gesetz": (Un-)Sociability between Kant and Schiller 

15:15 David Martyn (St. Paul): "…wir verstehen uns einander nicht": Maimon, Reinhold und die unbeherrschbare Inklusivität des Streitgesprächs

16:00 Kaffeepause

16:30 Jürgen Fohrmann (Bonn): 'Gemeine Sense': Reziprozitätsannahmen und Operativität des sensus communis

Ab 18:00 Gemeinsames Abendessen

09:30 Katharina Kraus (Baltimore): Kant on the Human Perspective, the Formation of Meaning, and the Sensus Communis

10:15 Kaffeepause

10:30 Rochelle Tobias (Baltimore): On the History of Forgetting: Kafka’s “Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse”

11:15 Fabian Rüther (Bonn): West-östliche Epochenverschleppungen: Gregor von Rezzoris Ein Hermelin in Tschernopol und der Mythos "Mitteleuropa"

12:00 Mittagessen

13:00 Sophie Modert (Bonn): Österreichisches Vaterland und deutsche Nation: Zum Verhältnis von Schulstufe und kultureller Identität im Österreich des 19. Jahrhunderts

13:45 Sarah Goeth (Aachen): Beobachteter Gemeinsinn: Statistisches Erzählen des Sozialen im 19. Jahrhundert

14:30 Kaffeepause

14:45 Inés Noé (Bonn): Das lateinamerikanische testimonio als literarische Intervention: Politische Fragen zur Ästhetik im Spannungsfeld zwischen sprechen und schreiben

15:30 Pablo Valdivia (Frankfurt/Oder): Sensus communis oder commons: Überlegungen zum Verhältnis von Besitz, Ästhetik und Gemeinschaft in der kolonialen Moderne

16:15 Kaffeepause

16:30 Dorothea von Mücke (New York City): Sensus communis for Immanuel Kant, Hannah Arendt, and Ana María Goméz Lopéz
Response by Ana María Goméz Lopéz

17:30 Abschlussdiskussion

ab 19:00 Gemeinsames Abendessen

Fotos von der Tagung

Wird geladen