Postmigrantische Perspektiven in der Peripherie

Workshop in Kooperation mit dem Kulturwissenschaftlichen Zentrum der Universität Konstanz

Seit einigen Jahren wird im deutschsprachigen Raum über „das Postmigrantische“ diskutiert. Aktivist*innen des kulturellen Felds haben den Begriff aufgebracht, Sozialwissenschaft-ler*innen haben ihn aufgenommen. Dem zunächst irritierenden Präfix, das eine Zäsur zu behaupten scheint, werden mehrere Bedeutungen beigelegt: Demnach sind postmigrantische Gesellschaften - erstens - im zeitlichen Sinne der Vorsilbe solche, die seit längerem einem migrationsbedingten demographischen Wandel unterliegen. Dem Rückblick auf die letzten Jahrzehnte wie dem Blick auf die Gegenwart und auch die Zukunft stellt sich Migration als eine Normalität dar, die begrifflich markiert werden soll. Offiziell wurde im Jahr 2001 anerkannt: „Deutschland ist faktisch ein Einwanderungsland“. Auf dieses reflexive Moment der öffentlichen Rede über Migration weist das Präfix - zweitens - hin: Das gesellschaftliche Selbstverständnis wird neu ausgehandelt. Die postmigrantischen Gesellschaftswissenschaften nehmen diesen Prozess in den Blick und intervenieren zugleich, wobei sie einer kritischen Theorie des Postkolonialismus folgen. So ist es ihr erklärtes Anliegen, über herkömmliche Begriffe und Unterscheidungen hinauszugelangen, die für die Gewinnung eines zeitgemäßen Selbstbilds hinderlich seien. Auch diese Bedeutung weist man dem Präfix – drittens - zu: Die deutsche Gesellschaft sei jenseits der Unterscheidung von Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen neu zu beschreiben.

Eine Literaturwissenschaft, die sich als Teil der Einwanderungsgesellschaft begreift und an deren Sinnhorizontbildung teilnimmt, wird dementsprechend ihren Kanon verändern, neue Fragestellungen entwickeln und Methoden erproben. Nicht zuletzt wird sie ebenfalls zur sozialen Selbstreflexion beitragen wollen. Ihre Gegenstände sind integrale Bestandteile dieses Prozesses. Die neueste Literatur fordert dazu heraus, ihren poetologischen Konsequenzen nachzugehen. Der geplante Online-Workshop soll dazu dienen, einige davon zu diskutieren, um auch der Literaturwissenschaft postmigrantische Perspektiven zu eröffnen.

Dabei soll das Hauptaugenmerk jenen Sozialräumen gelten, die als „ländlich“ oder „provinziell“ bezeichnet werden. Und das aus gutem Grund: Sozialwissenschaftler*innen, die sich mit Fragen der Verteilung und der Sichtbarmachung gesellschaftlicher Problemlagen befassen, haben in den letzten Jahren eine räumliche Dimension sozialer Ungleichheit ausgemacht und mit Blick auf deren öffentliche Verhandlung eine urbane Hegemonie konstatiert. Der Workshop möchte diese Perspektive mit der postmigrantischen kreuzen, um die Spannungsfelder und Polarisierungen auszuloten, in die Gegenwartsliteratur interveniert: Aus Sicht der Rural Studies fällt auf, dass die Rede vom „Postmigrantischen“ zuerst in Berlin im Bereich des Theaters aufkam – dessen Selbstbeschreibung als Gesellschaftslabor scheint hier zuzutreffen. Doch ist das Theater als Institution einer hoch voraussetzungsreichen Selbstverständigungspraxis städtischer Milieus anzusehen. Nicht zufällig sind die dadurch angeregten postmigrantischen Studien zumeist auf den urbanen Raum fokussiert und stützen dessen Normsetzungsansprüche: Mobilität und Diversität werden über die Normalisierung hinaus als „Ressourcen“ für eine fortschrittliche Entwicklung aufgewertet. Mithin ist zu diskutieren, ob dieser urbanozentrische Diskurs auch urbanormativ ist, also die urbane Hegemonie stärkt und die kulturelle Entfremdung von Zentrum und Peripherie möglicherweise vertieft. Sollte die Provinz nicht an der Aushandlung eines gesamtgesellschaftlichen Selbstverständnisses teilhaben? Wann rückt sie in den Blick? Wie wird sie repräsentiert? Welche Standpunkte werden dabei sichtbar, welche Stimmen vernehmbar gemacht? Ist die Sensibilisierung für die sozialräumliche Situiertheit unterschiedlicher Perspektiven mit poetologischen Innovationen verbunden? Diese Fragen wollen wir an literarische Texte herantragen, die von Migration und Provinz handeln.

Infobox

Donnerstag, 22. Juli 2021
ab 10 Uhr
via ZOOM

Freitag, 23. Juli 2021
ab 9:30 Uhr
via ZOOM

Organisation
Marcus Twellmann (Hamburg), Michael Neumann

Ablauf/Programm

10:00 Begrüßung und Einführung (Marcus Twellmann, Universität Konstanz)

10:30 Postmigrantische Inselwelten: Literarische Darstellungen der ‚dänischen Südsee‘ (Moritz Schramm, Universität Odense)

11:15 Ewig Peripherie? Raumdarstellung, Postmigrationserfahrungen und Gesellschaftsdiagnose in Deniz Ohdes Streulicht (Philipp Böttcher, Humboldt Universität zu Berlin)

12:00 Verdächtigungen und Vermutungen. Die Provinz als Tatort (Nishant K Narayanan, University of English and Foreign Languages Hyderabad)

12:45 Mittagspause

14:00 Golzow auf dem Weg ins postmigrantische Zeitalter? Was uns die Kamera (nicht) zeigt (Sabine Zubarik, Evangelische Akademie Erfurt)

14:45 Problemzone Ostdeutschland: Die Post-DDR-Provinz als Aushandlungsraum  des Postmigrantischen in Literatur und Comic (Willi-Wolfgang Barthold, Humboldt Universität Berlin)

15:30 Pause

16:00 Gespräch mit Dominik Barta über Poetik und Zeitgeschichte (Moderation: Maria Kuberg, Universität Konstanz)

9:30 Begrüßung und Zusammenfassung (Michael Neumann, Universität Bonn)

10:00 Gespräch mit Ronya Othmann über Poetik und Zeitgeschichte

11:00 Schreiben gegen deutsche Provinzialität. Mithu Sanyals Identitti und Asal Dardans Betrachtungen einer Barbarin (Maha El Hissy, Queen Mary University of London)

11:45 Ideen aus der Peripherie: Die Karibik und ein postmigrantisches Europa (Martina Kopf, Universität Mainz)

12:30 Mittagspause

13:45 „Weniger Räuberpistole, weniger Pippi Langstrumpf als der erste Teil“. Abschied vom Cool in Nochmal Deutschboden von Moritz von Uslar (Lena Brinkmann, Universität Bonn)

14:30 Die Eigentlichkeit der Provinz. Zu Juli Zehs Roman Über Menschen (Marie Gunreben, Universität Konstanz)

15:15 Forschungsperspektiven. Abschlussdiskussion

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