Räumliche Verfahren der Bezugnahme in Deutscher Gebärdensprache (DGS)
Vortrag mit Gisela Fehrmann (Bonn)
Gebärdensprachen sind nationale Einzelsprachen einer Minderheitenkultur, die auf allen linguistischen Ebenen eine den Lautsprachen vergleichbare Komplexität aufweisen. Sie sind keineswegs gleichzusetzen mit gestischer Kommunikation, nutzen aber wie Lautsprachen neben verbalen Mitteln immer auch Techniken der gestischen Bezugnahme – dies jedoch in performativ anderer Weise.
Als natürliche Zeichensysteme sind Gebärdensprachen durch die visuell-räumliche Modalität des Sprachsystems bestimmt und zeichnen sich prozessierungsbedingt durch modalitätsspezifische Besonderheiten aus, die sie in konstitutiver Weise mit der Operationalisierung des Raumes verbinden. Gebärden treten deshalb nicht zeitlich linear, sondern räumlich-simultan auf. Eine Abbildung gebärdensprachlicher Äußerungen in die Alphabetschrift ist folglich nicht möglich. Bis heute hat sich auch kein Modus adäquates Verschriftungssystem durchsetzen können, das den Stellenwert einer alltagsgerechten Gebrauchsschrift eingenommen hätte. Fernab der Schriftlichkeit nutzt die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ganz eigene Verfahren der raumzeitlichen „Zerdehnung der Kommunikation“ (Ehlich). Im Horizont solcher Situationsentbindung lassen sich räumliche Techniken unterscheiden, die einmal der zeitlichen Bezugnahme dienen. Im Sinne einer geographisch motivierten Bezugnahme realisieren sie dann die topographische Referenz auf außersprachliche Objekte, zeigen als topologische Marker aber auch den Bezug auf funktional-anaphorische Referenz an. Schließlich dienen sie auch der Darstellung von Pro- & Contra-Erörterungen (Emmorey 2002; Emmorey/Falgier 1999; Winston 1995). Die kategorische Unterscheidung der funktional-räumlichen Verfahren wird insbesondere in dialogischen Situationen als geographisch bzw. sozial motiviertes Mapping sichtbar und ist u.a. an medialen Markierungen orientiert. Im Kontext narrativer Bezugnahme wiederum sind verschobene Artikulationsräume die formalen Kennzeichen konstruierter Dialoge und ostensiver Handlungsinszenierung, in denen auch Erzähler- und Charakterrollen (Fehrmann/Jäger 2004; Morgan 1999; Perniss 2007) räumlich angezeigt werden.
Die vorliegenden Befunde zeigen, dass Raum nicht als reine Anschauungsform a priori begriffen und folglich auch nicht hinreichend als physikalisch stabile Größe definiert werden kann. Eine den Ausdrucksmitteln von Gebärdensprachen angemessene Beschreibungsform entwirft Raum als medial und sozio-kulturell geprägte Kategorie, die nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis sprachlicher Interaktion ist.
Infobox
Mittwoch, 19. Oktober 2022
18 Uhr c.t.
Hauptgebäude, Hörsaal II
Referenzen
Emmorey, K. (2002): The Effects of Modality on Spatial Language: How Signers and Speakers Talk about Space. In: R. P. Meier, K. Cormier, D. Quinto-Pozos (eds.): Modality and Structure in Signed and Spoken Languages, Cambridge, England, pp. 405-421.
Emmorey, K./B. Falgier (1999): Talking about Space with Space: Describing Environments in ASL. In: E.A. Winston (ed.): Storytelling and Conversation: Discourse in Deaf Communities, Washington, pp. 3-26.
Fehrmann, G. (2013): Exploiting Space in German Sign Language. Linguistic and Topographic Reference in Signed Discourse. In: Peter Auer/Martin Hilpert/Anja Stukenbrock/Benedikt Szmrecsanyi (eds.): Space in Language and Linguistics: Geographical, Interactional, and Cognitive Perspectives. (Reihe: Linguae et Litterae, Bd. 25) Berlin: Walter de Gruyter, 607-636.
Morgan, G. (1999): Event Packaging in British Sign Language Discourse. In: E.A. Winston (ed.): Storytelling and Conversation Discourse in Deaf Communities, Washington, pp. 27-58.
Perniss, P. (2007): Space and Iconicity in German Sign Language (DGS). MPI Series in Psycholinguistics 45, Radboud University Nijmegen.
Winston, E.A. (1995): Spatial Mapping in Comparative Discourse Frames. In: K. Emmorey, J.S. Reilly (eds.): Language, Gesture, and Space, Hillsdale/NJ, pp. 87-114.